Tonne statt Boje

Einfach nur schön…

Die Bilder, welche ich von zahlreichen Berichten gesehen und gelesen habe, bestätigen sich in den Tagen, welche ich hier im Nordwesten Deutschlands verbringe. Es ist einfach schön hier!

Der Weg von daheim nach Ostfriesland ist lang. 8 3/4 Stunden, um genau zu sein. Erst das Tram nach Basel an den Bahnhof, dann bequeme Erstklassfahrt mit der Deutschen Bahn via Münster nach Emden. 150 Euro finde ich günstig, wenn man die Preise mit jenen der SBB vergleicht.

Und es klappt alles. Ich habe mir eine halbe Stunde Umsteigezeit in Münster gegeben. Und das hat gerade gereicht. In Dortmund hat wer seinen Suizid am Bahnhof telefonisch angekündigt und so wurde weiträumig gesperrt. Nur deswegen haben wir uns so verspätet und da kann die DB nun auch nichts dafür!

Und in M., wie der Ostfriese Emden nennt, empfängt mich herrliches Sommerwetter und ein in 4. Generation geführtes gemütliches Hotel im Zentrum am Marktplatz, das Hotel “Deutsches Haus“.

Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass sich die Leute hier zu jeder Tageszeit mit “Moin” begrüssen. Und ich lese überall, dass das doppelte “Moin, moin”, gar nicht beliebt ist und einfach nur Touristengeschwabbel sei. Der einzige Nachteil im Hotel: es gibt keinen Lift. Müde wie ich bin, schleppe ich meinen Koffer mühsam über das Treppenhaus in den 3. Stock.

Gut erholt und durch ein reichhaltiges Frühstück gestärkt, mache ich mich am nächsten Morgen auf, Emden zu erkunden.

Die Stadt ist mit ihren etwas mehr als 50’000 Einwohnenden nicht wirklich gross. Bekannt wurde sie durch die VW-Autowerke. Noch immer werden hier die VW Passat von 8’000 Mitarbeitenden gefertigt und am Aussenhafen in alle Welt verschifft.

Und natürlich haben die hier geborenen Komiker Otto Walkes und Karl Dall die Stadt auch bekannt gemacht. Otto betreibt hier sogar ein Museum mit Souvenierladen. Auch der weltbekannte Regisseur Wolfgang Petersen (u.a. Das Boot) stammt aus Emden.

Oft komme ich an menschengrossen bronzenen Statuen vorbei; so z.B. dem Fischermädchen Jantje Vis, der Emder Strassenfegerin Peterke oder den drei Delftspucker zur Erinnerung an die Hafenarbeiter am Binnenhafen unten. Der Hafen hier wird übrigens Delft genannt. Also nicht nur die Bauart der Häuser, sondern auch Strassennamen erinnern mich häufig an Holland. Sogar eine Grachtenfahrt wird angeboten, da Emden so viele Kanäle hat.

Durch das Tor des Rathauses hindurch komme ich in einen ruhigen, sehr grünen Teil der Stadt. Man kann beinahe um die ganze Stadt laufen auf der ehemaligen Stadtbefestigung entlang der Kanäle. Schöne alte Häuser mit tollen Gärten stehen in den ruhigen Vierteln. Aufgefallen ist mir eine Sonnenuhr, welche nicht die MEZ anzeigt, sondern die WOZ, die Ortszeit. Das habe ich bis anhin noch nie gesehen. Polyeder-Sonnenuhr nennt sich das.

Dann komme ich an der letzten Kesselschleuse von Europa aus dem Jahre 1888 vorbei und schaue zu, wie das ganze funktioniert, da grad ein Boot durchfahren möchte. Diese Schleuse kann vier Kanäle für eine Durchfahrt bedienen.

Und aus dem Jahre 1804 steht da auf dem Wall die dreistöckige Mühle Vrouw Johanna. Noch immer kann hier Korn gemahlen werden.

Vrouw Johanna Mühle mit Müllerhaus
Vrouw Johanna Mühle mit Müllerhaus

Was mir auch auffällt, sind die riesigen, klotzigen Bunker, welche immer wieder zu sehen sind. Emden wurde im 2. Weltkrieg 94 mal bombadiert. Im September 1944 wurde die Stadt in nur 18 Minuten in Schutt und Asche gelegt. Dass laut Statistik “nur” 418 Menschen ums Leben kamen, wird den 1940 gebauten 35 Bunkern zugeschrieben. Und 31 davon stehen noch heute. In einem ist heute ein Museum eingerichtet, in welchem über mehrere Etagen an die Zeit des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung erinnert wird.

An einem Tag mache ich einen Ausflug auf eine ostfriesische Insel: Norderney. Mit der Regionalbahn fahre ich durch diese grüne, flache und immer wieder mit Wasser durchzogene Landschaft. Weniger schön sind die vielen, vielen Windräder, welche überall haufenweise Strom erzeugen.

In Norddeich Mole fährt die Fähre in ca. 50 Minuten hinüber nach Norderney. Das Schiff fährt durch eine ausgebaggerte Rinne, denn links und rechts vom Schiff laufen Strandläufer übers Wattenmeer. Irritierend!

Und auf meinem Marsch in die Stadt hinein traue ich meinen Augen nicht. In einer historischen Badekarre ist ein Standesamt, und es wird gerade “Ja, ich will” gesagt. Draussen bei den Strandkörben warten die Hochzeitsgäste.

Norderney ist das älteste deutsche Nordseebad. Ab 1797 durfte es sich Seebad nennen. Und im 17. und 18. Jahrhundert wurde Norderney nicht nur per Schiff besucht. Nein, da fuhr sogar bei Ebbe eine Postkutsche die 4 km lange Strecke vom Festland auf die Insel.

Ich entdecke die Büste von Theodor Fontane. In den Sommermonaten 1882 und 1883 lebte und wirkte er hier. In den Jahren 1825 und 1826 weilte auch Heinrich Heine auf der Insel und so wurde sie durch seine Lyrik sehr en vogue.

Theodor Fontane, 1819 - 1898
Theodor Fontane, 1819 – 1898

König Georg V. von Hannover kam während 30 Jahren hier auf die Insel in seine Sommerresidenz. Und seine Frau, Königin Marie, lud auf der nahen Düne die vornehme Gesellschaft zum Picknick ein. Ein kleiner Pavillon wurde gebaut und seit 1923 ist hier das Café Marienhöhe eingerichtet.

Und auf Norderney steht die einzige Windmühle aller ostfriesischen Inseln. Sie war genau 100 Jahre in Betrieb: von 1862 bis 1962 und heisst “Selden Rüst” = “Seltene Ruhe”. Bei gutem Wind wurden bis zu 5 Tonnen Getreide pro Tag gemahlen. Das Café, welches hier offensichtlich betrieben wurde, ist zur Zeit geschlossen. Schade!

Auf der Georgshöhe hat man einen genialen Rundblick über die ganze Insel und das Meer. Und da bietet der Nordstrand auch den Feriengästen einen breiten Sandstrand. Was braucht man mehr!

Auch einen Besuch habe ich der hübschen, in niederländischem frühbarocken Stil erbauten Stadt Leer gemacht. Die Stadt hat eine grosse Fussgängerzone mit vielen Seitengässchen und ruhigen Plätzen.

Gleich beim Bahnhof ist ein Gedenkstein an Liesel Aussen. Sie wurde 1936 in Leer geboren und nur siebenjährig zusammen mit ihren Eltern 1943 in den Gaskammern von Sobibor im besetzten Polen ermordet.

Ich lese, dass die Ostfriesen im pro Kopf-Verbrauch mehr Tee trinken als z.B. die Japaner oder die Briten. Und auch hier in Leer kann überall Tee und Zubehör wie Tassen, Stövchen und Kandiszucker gekauft werden. Bekannt ist das Teegeschäft Bünting mit Teemuseum, welches sich im Coloniale-Haus befindet. Dieses ist mit ca. 50 Motiven aus der ostfriesischen Mythen- und Sagenwelt bemalt. Eine kunterbunte Fassade. Und gleich davor steht “Teelke”, eine Bronzefigur mit Teekessel vom Leeraner Bildhauer Karl-Ludwig Böke.

Ein Wahrzeichen von Leer ist heute das 1894 erbaute Rathaus. Und unter den vielen alten Häusern mit wunderschönen Fassaden fällt auch das unter Denkmalschutz stehende Haus Samson auf. Es wurde bereits 1570 erbaut und 1643 mit dieser tollen Fassade versehen. Heute befindet sich die im Jahre 1800 gegründete Weinhandlung Wolff im Erdgeschoss.

Zufällig findet bei meinem Besuch in Leer das 14. Traditions-Schiffe-Treffen statt. Leer ist so schon viel touristischer als Emden. Und mit diesem Anlass sind noch mehr Menschen unterwegs. Vor allem natürlich am Hafen, wo all die alten Transportschiffe zu bestaunen sind. Und da steht auch noch ein Oldtimer. Ich bin dann schnell aus den Menschenmassen wieder raus.

An meinem letzten Tag in Emden zeigt sich das Wetter von seiner besten Seite.

Ich spaziere nochmals um den Binnenhafen herum und setze mich zum Lesen auf ein Bänklein am Wasser. Aus dem Lesen wird dann nichts. Eine Ungarin setzt sich zu mir und erzählt mir eine Stunde lang ihre ganze Lebensgeschichte. Mir dröhnt der Kopf und ich verabschiede mich.

Auf dem Weg zur weltberümten Kunsthalle von Emden komme ich am noch funktionierenden Wasserturm aus dem Jahre 1912 vorbei und am Chinesen Tempel aus den 1920er Jahren. Dieses Gebäude ohne Ecken und Kanten wurde erst als Bedürfnisanstalt genutzt. Heute sind hier Ateliers und eine Galerie eingemietet.

Henri Nannen, der Gründer der Zeitschrift “Stern”, hat 1986 zusammen mit seiner Frau diese Kunsthalle hier in seiner Heimatstadt eröffnet, um vorwiegend seine Kunstsammlung auszustellen. Laufend werden mit der Stiftung neue Errungenschaften getätigt. Dem Museum ist auch eine Malschule angeschlossen.

Zurück am Ratsdelft gehe ich nochmals durch das Alte Hafentor aus dem Jahr 1635. Im Hintergrund ist die Matjesbude, wo zu Essenszeiten Menschen lange Schlangen stehen für ein Fischbrötchen.

Tja, und dann sind die Tage hier in Ostfriesland auch schon wieder vorbei, leider. Ich hoffe, mal wieder herkommen zu können. Die Freundlichkeit der Leute, die Landschaft und nicht zuletzt die angenehmen Temperaturen mit einem steten Wind gestalten einen Aufenthalt sehr angenehm. Zuhause erwarten mich 34 Grad! Wie ich mich auf den Herbst freue!